Unbegabt zum Understatement

2022-10-17 01:09:47 By : Ms. Daisy Wang

Nicht selten ziehen sich Begabungen oder Charakterzüge über mehrere Generationen durch eine Familie, prägen sich in ihren Abkömmlingen mal stärker, mal schwächer aus. Wie beim verzweigten Clan der Braunfels-Hildebrand. Georg Etscheit zum neuen Buch von Wolfgang Herles

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Die Weitergabe von Talent, Begabung, Genie von einer Generation auf die andere ist ein weitgehend ungelöstes Rätsel. Niemand weiß genau, welche Rolle „die Gene“ spielen, welche die familiäre Sozialisation oder andere äußere Einflüsse. Manchmal schießt ein „einsames“ Genie aus einer langen Ahnenreihe plötzlich zu öffentlicher, gar historischer Bedeutung empor, um mit dem Tod seines Trägers sogleich wieder zu verlöschen. Nicht selten aber ziehen sich bestimmte Begabungen oder Charakterzüge über mehrere Generationen durch eine Familie, prägen sich in ihren Abkömmlingen mal stärker, mal schwächer aus. Wie beim verzweigten Clan der Braunfels-Hildebrand.

Deren bekannteste Protagonisten sind der Bildhauer Adolf Hildebrand (1847–1921), Schöpfer eines organischen Klassizismus, ein deutscher Canova, sowie der zwischen Spätromantik und Moderne stehende, in der NS-Zeit aufgrund jüdischer Vorfahren verfemte Komponist Walter Braunfels (1882–1954) und schließlich der einem lichten Postklassizismus verpflichtete Architekt und Stadtplaner Stephan Braunfels (geboren 1950). Sie alle verbindet ein hoch entwickelter Sinn für die rechte Form und Gestalt, für Proportion und Ebenmaß, in der bildenden Kunst wie in Musik und Architektur, ein Sinn für Schönheit.

Und weil Schönheit nichts anderes ist als Wahrheit, wundert es nicht, wenn man in der bedeutenden Künstlerfamilie auch immer wieder einen scharfen, mitunter trotzig hochfahrenden Reflex gegen alles Dogmatische und Kollektivistische antrifft, gegen unfertige Gedanken, gegen (falsches) Pathos und mystisches Gewaber. Eine Familie von Individualisten, geprägt „von der hellen, klaren Luft der Renaissance“, wie der Journalist und Buchautor Wolfgang Herles schreibt, der eine umfangreiche, inspiriert geschriebene und gründlich recherchierte Monografie der Dynastie vorgelegt hat. Ein Buch, das sich trotz seines Detailreichtums nicht in Nebensächlichkeiten verliert. Und dem es überdies gelingt, den Blick zu weiten und ein zeitgeschichtliches Panorama zu entfalten, dem man immer wieder staunend gegenübersteht.

Herles beginnt seine spannend erzählte Saga Mitte des 19. Jahrhunderts mit den Vorfahren der beiden Familienstämme: dem Wirtschaftswissenschaftler und Protagonisten der deutschen Revolution von 1848, Friedrich Bruno Hildebrand, sowie dem vom Judentum zum Protestantismus konvertierten Advokaten, Journalisten und Mitgründer der „Neuen Frankfurter Zeitung“ (der späteren, liberal-bürgerlichen „Frankfurter Zeitung“) Ludwig Braunfels.

Geschichte einer deutsch-jüdischen Familie Ein Glücksfall: „Glückskinder“ von Michael Wolffsohn Hildebrand übersiedelte aus politischen Gründen in die Schweiz, wo er an der Universität Zürich lehrte und als Direktor einer Bahngesellschaft zu einem Pionier des Eisenbahnzeitalters wurde. Ludwig Braunfels wiederum verteidigte seine Zeitung und seine Kollegen mutig vor Gericht, die sich gegen die Obrigkeit zur Wehr zu setzen versuchten. Braunfels vermählte sich in zweiter Ehe mit Helene Spohr, einer Großnichte des Komponisten Ludwig Spohr.

Beide Stammväter des Braunfels-Hildebrand-Clans waren extrem widerständige, freigeistige Charaktere, dabei jedoch fest in der bürgerlichen Welt verankert. Schon in diesen Persönlichkeiten deutete sich das „Konfliktpotential“ an, das in der Familie, wie Herles schreibt, „über Generationen wirksam“ wurde. Bis zum Architekten Stephan Braunfels, dessen endlose juristische und über die Medien ausgetragenen Auseinandersetzungen mit einem von ihm selbst als inkompetent und korrupt empfundenen öffentlichen Bauwesen ihm die giftige Zuschreibung eines „Don Quijote am Bau“ eingetragen haben.

Weil Schönheit nichts anderes ist als Wahrheit, trifft man in der Künstlerfamilie auch immer wieder einen scharfen Reflex gegen alles Dogmatische an

Die beiden Familien wussten noch nichts voneinander, als Adolf Hildebrand, Sohn Friedrich Bruno Hildebrands, zu einem der bedeutendsten deutschen Bildhauer des 19.  Jahrhunderts aufstieg, der allerdings heute ein wenig und durchaus zu Unrecht in Vergessenheit geraten ist. Wenn man einmal von seiner wichtigsten Wirkungsstätte, München, absieht. Dort steht das heute als Literaturarchiv genutzte „Hildebrandhaus“, und dort ist eines seiner Hauptwerke zu bewundern, der ebenso monumentale wie klassisch ausgewogene Wittelsbacherbrunnen am nordwestlichen Rand der Altstadt, mit dem Hildebrand so etwas wie eine deutsche beziehungsweise bayerische Fontana di Trevi hatte erschaffen wollen.

Den Künstler beseelte das „Eros der Klarheit“ (Herles), was sich nicht zuletzt in der Vehemenz niederschlug, mit der er sich gegen Anfeindungen aus seiner Heimat zur Wehr setzte, seine Kunst sei „nicht deutsch genug“. Doch für ihn zählte nur die Schönheit, für die man notfalls zu kämpfen habe.

Adolf Hildebrand (seit 1903 Ritter Adolf von Hildebrand) lebte lange Zeit nahe Florenz, wo die Villa San Francesco di Paola, ein von ihm umgebauter ehemaliger Konvent, zu einem Epizentrum des europäischen Geisteslebens wurde und einen Geist atmete, der dem muffigen Nationalismus der Gründerzeit diametral entgegengesetzt war. Hier wurde auch Hildebrands jüngste Tochter Bertel geboren, die sich, musikalisch selbst hoch begabt, zuerst mit dem Dirigenten Wilhelm Furtwängler verlobte, bevor sie Walter Braunfels heiratete, womit die gemeinsame Geschichte der Familien Hildebrand und Braunfels ihren Anfang nimmt.

Das Bekenntnis zum „Eros der Klarheit“ teilte der Komponist, Pianist und Musikpädagoge Walter Braunfels mit seinem Schwiegervater. Von 1910 bis Mitte der Zwanzigerjahre galt Braunfels neben Richard Strauss und Franz Schreker als einer der erfolgreichsten „modernen“ deutschen Komponisten, wobei er den Bezugsrahmen traditioneller Tonalität nie verließ.

Seine 1909 uraufgeführte fantastische Oper „Prinzessin Brambilla“ nach einer Vorlage E.T.A. Hoffmanns atmet den luziden Geist von Mendelssohns „Sommernachtstraum“, wobei sich der Komponist selbst eher an dem französischen Klangmagier Hector Berlioz orientierte. Einen weiteren großen Erfolg landete Braunfels mit seiner 1920 uraufgeführten Oper „Die Vögel“ nach Aristophanes, die gerade eine kleine Renaissance auf den Opernbühnen erlebt.

Zur Philosophie von Edith Stein Den Menschen denken und Gott wissen Kriegserlebnisse während des Ersten Weltkriegs bewogen ihn, zum Katholizismus zu konvertieren, was sich später in Sakralkompositionen wie einem Te Deum niederschlug, durchweht von einem feierlichen, aber niemals schwülstigen Pathos. „Erlösung durch Schönheit“ schwebte dem Konvertiten nun vor.

Weil Braunfels als „Halbjude“ galt, erhielt er in der NS-Zeit Aufführungsverbot und wurde aus allen Ämtern entlassen. Dabei soll ihn Adolf Hitler 1922 noch persönlich angesprochen und um die Komposition einer Parteihymne gebeten haben, was Braunfels ablehnte. Stimmt diese Geschichte? Laut Herles ist sie nirgendwo dokumentiert, sondern nur mündlich überliefert. Und kannte Hitler wirklich Braunfels’ Oper „Die Vögel“, wie Herles schreibt? Ein Mann, der für Wagners „Rienzi“ und Lehars „Lustige Witwe“ schwärmte, soll sich ein Werk modernen Musiktheaters angetan haben? Es scheint allzu unwahrscheinlich.

Nicht abschließend geklärt scheint auch die Frage, warum Braunfels Nazi-Deutschland nicht verließ, sondern sich in einem Haus am Bodensee in die innere Emigration zurückzog. Möglicherweise hätte er wie andere Kollegen zunächst als Komponist etwa von Film- und anderer „Gebrauchsmusik“ in den USA Fuß fassen können.

Aber vielleicht wollte Braunfels, ähnlich wie Wilhelm Furtwängler, den Herles wegen seiner Auftritte vor Nazigrößen und diverser offizieller Ämter im NS-Staat zum „Opportunisten“ stempelt, den deutschen, eben seinen Kulturkreis nicht verlassen, auch und gerade nicht in mörderischer, kulturferner Zeit. Einem bei Herles mehrfach zitierten Satz zufolge sah er sich als „Stein im Damm“ gegen die braune Flut. Soll man das Mut nennen oder Vermessenheit?

Es zählt übrigens zu den großen historischen Verhängnissen, dass eine ganze Generation hoch begabter deutscher Komponisten von den Nazis verfemt und so nachhaltig kaltgestellt oder außer Landes getrieben wurde, dass sie, von Ausnahmen abgesehen, nirgendwo mehr Fuß fassen konnten und ihr Talent für die Nachwelt, von gelegentlichen Rehabilitierungsversuchen abgesehen, mehr oder weniger verloren ging. Zumal sie nach dem Krieg auch von der „Avantgarde“ der Zwölftöner und Geräuschkomponisten geächtet wurden.

Nach drei kürzeren Abhandlungen über den katholischen Theologen und Philosophen Dietrich von Hildebrand (Bruder von Bertel Hildebrand-Braunfels) sowie den Komponisten und Pianisten Michael Braunfels und den Kunsthistoriker Wolfgang Braunfels (beides Söhne von Walter Braunfels), biegt Herles mit einem großen Kapitel über den Architekten Stephan Braunfels, Enkel des Komponisten, auf die Zielgerade seines ebenso fundierten wie kurzweiligen Buches ein.

Auch dieser mehr als streitbare Vertreter seiner Sippe und seiner Zunft ist beseelt von dem, was die Braunfels-Hildebrand im Innersten zusammenhält: ihr allen gemeinsamer Sinn für Schönheit und Wahrheit oder für das, was in ihren Augen als Wahrheit zu gelten hat.

Geliebt, gehasst, umstritten Franz Josef Strauß: der Politiker, der Mensch und der Vater Die außerordentliche Begabung auch eines Stephan Braunfels, dem Herles mit leichter Ironie ein besonderes „Talent für Treppen“ attestiert, steht außer Zweifel, wenn man seine beiden wichtigsten realisierten Projekte als Referenz heranzieht: die (unvollendete) Pinakothek der Moderne in München mit ihrer an Vorbilder der Renaissance gemahnenden Rotunde, sowie seine Bundestagsbauten in Berlin beiderseits der Spree, das Paul-Löbe-Haus sowie das gegenüberliegende Marie-Elisabeth-Lüders-Haus mit ihren an Carrara-Marmor erinnernden Sichtbetonfassaden und einer monumentalen, leider immer etwas verwaisten Freitreppe.

Es zählt zu den großen historischen Verhängnissen, dass eine ganze Generation hoch begabter deutscher Komponisten von den Nazis kaltgestellt wurde

Dabei muss man freilich konstatieren, dass die Zahl der realisierten Bauvorhaben aus dem Hause Braunfels in markantem Gegensatz steht zu der langen Liste seiner – oft ungefragt eingereichten und von viel Medientamtam begleiteten – städtebaulichen Konzepte, die stets als ganz große, abschließende Würfe daherkommen, unter denen es ein Mann wie er offenbar nicht zu machen pflegt. Von den endlosen gerichtlichen Auseinandersetzungen, die viele seiner Würfe und Entwürfe begleitet haben, einmal ganz abgesehen.

Man kann durchaus der Meinung sein, dass Braunfels, von einem rein ästhetischen Standpunkt aus betrachtet, oft ins Schwarze getroffen hat – sei es mit seiner Kritik an der massiven Beeinträchtigung des Münchner Hofgartens durch eine seinerzeit von Franz Josef Strauß geplante monströse Staatskanzlei, sei es, ganz aktuell, sein vergebliches Anrennen gegen die gesichtslose Kunstscheune des Büros Herzog & de Meuron neben Mies van der Rohes filigraner Neuer Nationalgalerie am Berliner Kulturforum oder gegen den kläglich misslungenen Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses.

Doch Deutschland ist eine Demokratie, in der (zu) viele mitreden wollen und mitzureden haben und von großen Würfen oft beschämend wenig übrig bleibt. Die Zeit fürstlicher oder adeliger Bauherren ist hierzulande vorbei, weswegen nicht wenige Vertreter der Stararchitektenzunft ihr Heil in autoritären Staaten suchen, wo sie hoffen, ihre Gedankenblitze ohne Abstriche verwirklichen zu können. Zum Preis bestenfalls nur moralischer Korruption.

Wolfgang Herles macht es sich etwas einfach, wenn er Braunfels’ Narrativ von den unfähigen Behörden und noch unfähigeren Politikern grosso modo übernimmt. Und wenn er den Architekten im Zusammenhang mit den finanziellen Kalamitäten, die Braunfels offenbar drücken, weil er nur noch schwer an Aufträge kommt, mit weitaus prominenteren Schuldenmachern im Dienste der Schönheit und der Wahrheit wie Richard Wagner oder Wolfgang Amadeus Mozart vergleicht. So weit wäre nicht einmal ein Angehöriger der zu Understatement wahrlich unbegabten Künstlerfamilie gegangen.

Georg Etscheit studierte Journalistik, Politik und Geschichte Osteuropas in München, Frankfurt und Moskau. Er war Redakteur und Korrespondent der dpa in Hamburg und Dresden. Seit 2000 freier Autor.

Wolfgang Herles, Felsen in der Brandung. Die Geschichte einer deutschen Künstlerfamilie. Benevento, Hardcover mit Schutzumschlag, 350 Seiten, 35,00 €.

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