08.10.2022: Nie mehr arbeiten (Tageszeitung junge Welt)

2022-10-08 17:33:43 By : Ms. Carol Wang

Marseille ist nicht Monaco. Doch auch in der französischen Hafenstadt ist ohne Moos nichts los. Und Geld ist verdammt knapp bei dem verwitweten Exmillionär Monsieur Bartek (Gérard Jugnot). Er und seine drei Kinder hausen in einer Bruchbude. Das Dach ist leck, aus den Wasserhähnen tropft eine undefinierbare bräunliche Tunke, und die Elektrik in dem düsteren Gemäuer ist lebensgefährlich. Arm trotz Arbeit nennt man das heute. Denn schuften müssen sie alle.

Barteks Sohn Philippe (Victor Artus Solaro) kämpft sich mit seiner Fahrradrikscha durch die von Touristen und allen möglichen Idioten verstopften Straßen. Doch schlimmer als die Fahrgäste und der Verkehr ist die Konkurrenz, drahtige junge Kerle, durchtrainiert und skrupellos. Regelmäßig schnappen sie Philippe die Kundschaft vor der Nase weg.

Wenigstens in dieser Hinsicht hat es Barteks Tochter Stella (Camille Lou) etwas leichter. Die Belegschaft des Restaurants, in dem sie bedient, kennt, wenn es darauf ankommt, noch echte Solidarität – selbst mit Stella. Die kleine Prinzessin ist nämlich mental für den Job nicht so recht geeignet. Als Reaktion auf ihr hochnäsiges Auftreten wird sie ständig von den Gästen schikaniert, was bei ihren Kollegen meist nur den achselzuckenden Kommentar auslöst: »Ist eben wie früher, nur andersherum.« Eines Tages übertreibt es dann jedoch ein Gast. Er nörgelt penetrant und behauptet schließlich, dass Stella der Aufgabe, ihm ein paar grüne Bohnen zu bringen, intellektuell nicht gewachsen sei. Da haben selbst die rauen Jungs in der Küche Mitleid mit ihr. Sie füllen ihr den Teller randvoll mit duftenden Bohnen und rotzen dann alle auf das Essen, bevor Stella die Portion lächelnd serviert.

Wo das Geld dermaßen hart verdient wird und man tagein, tagaus von der Hand in den Mund lebt, gibt es natürlich kein Nachsehen mit Schmarotzern.

Alexandre (Louka Meliava), Barteks jüngstes Kind und damit der kleine Bruder von Phillipe und Stella, hat eines Tages die Schnauze voll vom Überlebenskampf und bleibt einfach im Bett. Als er sich abends bei Tisch an den Nudeln bedienen will, hauen ihm seine Geschwister gnadenlos mit der Kelle auf die Pfoten und jagen ihn aus dem Haus. Der alte Bartek beobachtet dieses Treiben, ohne einen Kommentar abzugeben.

Das harte, aber faire Familienleben findet ein jähes Ende, als plötzlich Stellas Verlobter (Tom Leeb) auftaucht, ein perfekt gestylter Widerling, der behauptet, er habe seine argentinischen Ländereien als Sicherheit hinterlegt, und die Konten des alten Bartek wären nun wieder freigegeben. Sie könnten deshalb alle nach Monaco zurückkehren.

Es war also nur ein kurzer Ausflug ins Elend. Hat er die Kinder verändert? Als sie auf dem Marmorboden ihrer riesigen Villa stehen, jubeln sie vor Freude: »Endlich sind wir wieder reich!« Stella knutscht überschwenglich ihren Verlobten ab und Philippe seinen Ferrari, was man ihm, dick und rund, wie er ist, nach zwei Wochen auf der Rikscha nicht verübeln kann.

Aber mit dem Reichtum ist es bekanntlich so eine Sache. Und auch im Hause Bartek wurde, wie der Vater nun erkennen muss, nur ein Ärgernis durch ein anderes abgelöst. Neuerdings heißt das Problem nämlich Aufruhr, früher hieß es Faulheit. Und gegen diese Unlust seiner Kinder, sich den Lebensunterhalt selbst zu verdienen, hatte der Alte nur einen Ausweg gesehen. Er inszenierte eine gewaltige Razzia: Steuerfahndung und Polizei, das ganze Programm, plus der überstürzten Flucht nach Marseille.

Cineastische Cracks werden sich an dieser Stelle fragen, ob der leidgeprüfte Vater vor dieser aufwendigen Inszenierung auch einen Herzkasper hatte. Ja, hatte er, genau wie in Luis Buñuels »Der große Lebemann« aus dem Jahr 1949, der für »Meine schrecklich verwöhnte Familie« als Vorlage diente. Ein mexikanisches Remake gab es mit Gary Alazrakis »Nosotros los ­Nobles« (deutsch »Die Kinder des Senor ­Noble«) bereits 2003.

Neu ist jedoch, dass die Sippe später den Aufstand gegen den Alten probt. Denn eines haben seine Kinder gelernt: Arbeit taugt nichts. Also werden sie Unternehmer und drehen mit dem eigenen Geld im Rücken den Spieß um. Sie überschütten ihren Vater, der sich angeblich nie um sie gekümmert habe, mit Vorwürfen. Der reagiert unwirsch. »Ja, ja, ich bin ja sowieso an allem Schuld: an Bauchfellentzündungen, an Magersucht und am Klimawandel!« Er stapft aus dem Zimmer und lässt die Tür scheppernd ins Schloss fallen.

Ob es nach diesem Krach jemals wieder ein harmonisches Familienleben geben kann? Es sei nur soviel verraten: Es gibt ein Happy-end.

Über Buñuels Film haben sich – wie bei vielen seiner vergleichsweise kommerziellen Werke der mexikanischen Periode – die Kritiker übrigens noch nach Jahrzehnten darüber in den Haaren gelegen, ob der Film nun einfach nur Kintopp sei oder doch ein echter Klassiker. Dieses Problem dürfte das Remake, eine schrecklich leichte Komödie, wohl kaum bekommen.

»Meine schrecklich verwöhnte Familie«, Regie: Nicolas Cuche, Frankreich 2021, 95 Minuten, DVD und Blu-Ray, erhältlich ab 6. Oktober über Eurovideo

Dein Abo für den heißen Herbst!

in Zeiten der sozialen Verwerfungen braucht es ein Korrektiv, das die Propaganda der Herrschenden in Wirtschaft und Politik aufzeigt. Deshalb: jetzt das jW-Abo abschließen!