Galerien - Markus Redl: Die Wörter dingfest machen - Wiener Zeitung Online

2022-10-08 17:38:17 By : Mr. David Zhai

Markus Redl, abgestürzt: Der Künstler auf seinem Textteppich, für den er viel Kondition gebraucht hat ("Brecht-Zyklus II", 2020).

Er hat ein Buch über diesen Bettnässer mit fünf Buchstaben gemacht. Nein, das Buch enthält natürlich mehr Buchstaben. Der Bettnässer hat lediglich fünf. Und wäre dieser übrigens keiner , kein Bettnässer, würde er überhaupt nicht existieren. Wenn sein Bett also ausgetrocknet wäre. Gemeint ist, richtig: der Fluss.

Und eigentlich handelt der zwei Kilo schwere Wälzer (ich hab ihn abgewogen) nicht wirklich von einem fließenden Gewässer, sondern von – so ziemlich allem. Was den Bildhauer, Zeichner und Schreiber Markus Redl in den letzten paar Jahren nämlich quasi umspült hat. Bzw. bei ihm herumsteht und -liegt. Im Atelier, in der Küche, auf den Tischen, im Bücherregal. Und das in zahllose Papierarbeiten eingeflossen ist, die meist Hybriden sind aus Zeichnung und Schriftstück. 

"Flussmitte – Porträts der Dinge" ist er betitelt, der Schmöker, in dem obendrein Unmengen an Quelltexten aufgelistet werden, aus denen sich dieser beständige Informations- und Gedankenstrom speist, der beschaulich durch diverse Wissensgebiete, gesellschaftliche Problemfelder und die Kultur mäandert (Philosophie, Geschichte, Weltliteratur . . .). Und der sehr belesene Künstler (Ich: "Host noch immer kan Fernseher?" – Er: "Na. Kommt ma nicht ins Haus!"), der verbindet das alles mit dem unmittelbaren Alltag und dessen Gegenständen (Zuckerdosen, Zangen, Teddybären . . .) zu einem größeren Ganzen. Einem unendlichen Ganzen, das niemals vollständig sein wird. Einem expandierenden Universum.

An der Wand: "Der Unterland-Zyklus I" (2020), und zwischen die Buchdeckel ist er ebenfalls irgendwo hineingeklemmt. Titel der neuen Publikation von Markus Redl: "Flussmitte - Porträts der Dinge" (der erste Band von geplanten dreien).

Mehr als ein Katalog zur gleichnamigen Ausstellung (okay, die heißt nur "Flussmitte" – ohne Untertitel), die derzeit in der Galerie Kandlhofer läuft. Und weniger. Zumal einerseits mehr Zyklen abgedruckt sind, als gezeigt werden, und andererseits auf den Galeriewänden bereits in die Zukunft geschaut, der geplante nächste Band aufgeschlagen wird: "Flussrand I." (Mit dem Zusatz: "Uferlos.") Redl: "Ich hab so die Idee, ich bin im Fluss und würd’ gern ins Trockene, bin aber nicht erfolgreich, weil der Fluss uferlos ist." Ein uferloser Fluss? Gibt’s so was denn? Na ja, spätestens sobald besagtes Buch erscheint. Außerdem: Fließt nicht der Rhein durch den Bodensee? Und im See hat der Fluss dann ja wohl kein Ufer, oder? (Angeblich fließt er freilich gar nicht durch. Er füllt den See. Und am andern Ende leert er ihn.)

Auch insofern ist das – schon publizierte – Buch Teil der komplexen Schau, in der Namen von Brecht bis Schopenhauer herumschwimmen, als es installativ aufgetürmt worden ist und die wogenden Stapel selber im Fluss, nicht statisch sind und im Idealfall "verebben" werden. (Wenn sich genug Besucher ein Exemplar kaufen.) 

Der Kaffee, den der Markus Redl gekocht und gezeichnet hat, soll "ballettös begabt" sein. Behauptet zumindest die Schreibmaschine, die das auf das vorliegende Blatt aus dem "Unterland-Zyklus I" getippt hat.

Im ersten Lockdown hat der nach Wien übersiedelte gebürtige Klosterneuburger (ein 1977er-Jahrgang) mit Tusche, Bleistift, Kohle intime Reisen durch sein dingliches Umfeld unternommen. Das Buttermesser und die Reibe von der Oma benehmen sich völlig normal, der Espressokocher (diese Mokkakanne für den Herd) gießt dafür seinen Inhalt "verhaltensgestört" in einen atmungsaktiv durchlöcherten Plastikschlapfen, während der (mit einer Schreibmaschine getippte) Kommentar den "ballettös begabten Kaffee" lobt, obwohl klobige Crocs mit ihren Belüftungslöchern eher keine Tanzschuhe sind. Ein Korkenzieher reißt die Arme jubelnd hoch, nein, Tschuldigung: Der ist ein Heimwerker ("Spiegel aufbauen"). Und senkt sie wieder ("und halten"), wirkt direkt menschlich. (Redl: "Ich bin eigentlich kein Weintrinker, aber einen Flaschenöffner hab ich trotzdem.")

Die Blätter, deren Stimmung sich nicht selten kohlschwarz verdüstert, erzählen Geschichten, surreale, persönliche, witzige. Ein bissl Genealogie, Familiengeschichte, steckt ebenfalls drin, wenn zum Beispiel der alte Dachshaar-Rasierpinsel vom Opa (der Enkel rasiert sich damit nach wie vor) misstrauisch beäugt wird von einem stark behaarten, sprich unrasierten Marderverwandten auf dem Nachbarblatt. Redl: "Der Dachs schaut auf den Pinsel, zu dem er verarbeitet worden ist." Oder halt ein Waschbär, der sich offenbar für einen Dachs hält . Dazu ein Subtext, in dem Versfetzen aus Paul Celans dunklem Holocaust-Gedicht "Todesfuge" nach- und durcheinanderhallen: das goldene Haar der Margarete, das Grab in der Luft, in dem man nicht eng liegt, nachdem man als Rauch aufgestiegen ist ("In den Lüften da liegt dein / goldenes / Haar"). (Obiger talentierter Kaffee ist dennoch nicht die "schwarze Milch der Frühe".) 

Im "Schopenhauer-Zyklus II" formatieren sich sachlich präsentierte und doch irgendwie unheimliche Werkzeuge und rätselhafte Gerätschaften selber zu einem Poem, zu einem lyrischen Rhythmus. Und das vielleicht Unheimlichste daran: dass diese Objekte, sogar die medizinische Schere, allesamt dem Künstler gehören. Bis auf die Knochensäge. Die hat er im Internet gefunden und auch dort gelassen . Sie bloß abgezeichnet. Hatte ansonsten keinerlei Verwendung für sie. ("Nachdem ich kein Fleisch zubereite . . .") Gut zu wissen, dass er kein Kannibale ist. (Schließlich ist das eine chirurgische Knochensäge. Keine vom Fleischhauer.)

Gedicht mit sich reimender Knochensäge: "Schopenhauer-Zyklus II" (2020) von Markus Redl.

Als zentraler Begriff taucht immer wieder ein ominöses "Wendemittel" auf. Google hat mir allerdings nicht geglaubt , dass ich das suche. Und mir stattdessen "Bindemittel" vorgeschlagen. Deshalb rate ich: Hm, ein Hausfreund? So ein Pfannenheber und –wender? Jedenfalls eine Vorrichtung, mit der man etwas von verschiedenen Seiten begutachten kann, wie es der Redl ja generell tut.

Eine Spezialität dieses mutmaßlichen "Uomo universale", dieses Universalmenschen, der zeichnen, bildhauern, lesen, schreiben und Kaffee kochen kann (mindestens), ist es, den präzise beobachteten Dingen eine getextete Aura zu verpassen. Also den Tannenzapfen, über den er vor einem Lebensmitteldiskonter gestolpert ist, oder den Ölabscheider jenes Kompressors, mit dem er den Staub von seinen Steinen wegbläst, einzubetten in seine Handschrift, in Ausschnitte aus seiner Lektüre. (Leidet der womöglich an einem Horror vacui? Hat der eine panische Angst vor der Leere?)

Mit der kontemplativen Geduld eines mittelalterlichen Mönchs im Skriptorium kopiert er Teile von Thomas Nagels "Geist und Kosmos", Rüdiger Safranskis "Schopenhauer und die wilden Jahre der Philosophie" oder Robert Macfarlanes "Im Unterland: Eine Entdeckungsreise in die Welt unter der Erde" (und benennt nach letzterem Sachbuch über Unterirdisches wie Höhlen und Endlager für Atommüll seinen "Unterland-Zyklus"). 

Ein manisch schreibender Zeichner, besessen zeichnender Schreiber, der der Linie folgt, wohin sie ihn führt: in die Zeichnung oder die Schrift. Das eine wird zum Kommentar des andern. "Ich glaub, dass ma Bilder lesen kann", meint der Redl. Ja, eh. Besonders seine Bilder. "Ich sag nicht: Der Text muss gelesen werden." (Puh.) Weil: "Eigentlich isses a Bild." (Und das profitiert definitiv davon, dass dessen Schöpfer kein Stümper ist. Dass er zeichnen kann . Das Wesen der Dinge zu erfassen imstande ist.)

Fleißaufgabe: Brecht abschreiben. Immer wieder von vorn. Bis von seinem "Badener Lehrstück vom Einverständnis" nur noch ein abstraktes Stimmengewirr übrig ist. (Um die mittleren Abschnitte hat sich der Markus Redl in seinem "Brecht-Zyklus II, 2020, freilich herumgedrückt. Aus Gründen der Ästhetik.)

Dass es zum Glück reicht, beim Betrachten unterschwellig das eine oder andere Wort aufzuschnappen, demonstriert er eindrücklich im imposantesten Stück. Und das ist tatsächlich eines, ein Stück. Eines von Bertolt Brecht. "Das Badener Lehrstück vom Einverständnis", das anhand des Scheiterns und Sterbens eines Fliegers (und mithilfe von einer Art Über-Ich-Chor) die Frage abhandelt, wie Individuum und Gemeinschaft zueinander stehen (sollen), hat er gleich mehrmals aus dem Kalligrafiepinsel rinnen lassen.

Noch dazu nicht die von Paul Hindemith vertonte Fassung der Uraufführung von 1929, sondern die erweiterte . Ständig wiederholt hat er sie. ("Das war so ein Klausurding.") Hat sie so oft übereinandergeschrieben, bis zur Unleserlichkeit verdeutlicht, bis sich die Sätze und Stimmen zu einem Textteppich verwoben, zu einem dekorativen Plätschern, zu geometrisch abstrakten Flächen verdichtet haben, in dem einzelne Wörter (oh, "Mensch") entzifferbar herumzappeln. Alles ist da und im selben Augenblick ausgelöscht. Dermaßen überlang sind die Blätter, die schleifen unten am Boden wie eine Schleppe. (Redl: "Ich hab einen langen Raum daheim." In dem hat er die jeweilige Papierbahn ausgelegt und sich nachher dem bunten Tusche-Rauschen hingegeben.)

Noch mehr Lesestoff, diesmal in einem mappentauglicheren Format: der ERSTE "Brecht-Zyklus" vom Markus Redl. Und der kennt so Wörter wie "Ab-erneuerung".

Dagegen ist der "Brecht-Zyklus I" mappentauglicher. Die Arbeiten, entstanden aus einer Auseinandersetzung mit Person und Werk Brechts ("Er ist an seine eigenen moralischen Ansprüche an die Welt nicht so nah rangekommen."), könnten locker als Entwürfe für Cover von Büchern durchgehen. Klare Botschaften in Druckschrift vor sprachlich diffusem Hintergrundrauschen.

Während vorn beispielsweise ein "Unantastbarer Opferstatus" proklamiert wird, wird hinten mantraartig ein doppeldeutiges Verb in blutiger Schreibschrift heruntergebetet und will einfach nicht gerinnen ("ausrasten" – und das kann zweierlei meinen: "a bisserl ausruhen und a bisserl durchdrehen", wie es der Redl formuliert). "Hedonistischer Suizid": He, ist der darunter auf dem Kopf stehende Imperativ "Lass das Messer drin" ein Rat an den Mackie Messer aus der "Dreigroschenoper"? (Und wo soll er es drin lassen? Im Hosensack oder in der Brust seines Opfers?) Und was, bitte, ist eine "Ab-erneuerung"? Antwort: Ein Brecht-Terminus. 

Moment: Und was hat es im zweiten "Brecht-Zyklus" mit diesem Pfeil nach rechts auf sich? Gleich neben der Überschrift "Die Hilfeverweigerung"? (Der "Brecht-Zyklus II" ist nämlich ein Triptychon, dessen Mittelteil nur die Titel der Abschnitte verzeichnet und den Rest weiß belässt – eine Insel der Erholung und Ruhe.) Was diese Richtungsanzeige zu bedeuten hat? Dass der Künstler plötzlich draufgekommen ist, dass die Schrift eine Spur zu weit links ist. ("Scheiße, ich muss ma was überlegen, wenn ich das noch einmal erzähl’, dass das a gscheidere Gschicht wird.")

"Stein 156 - 157 (Wendemittel)": Sind das Hieroglyphen aus Ägypten? Ein paar davon. Aber die meisten auf diesem multikulturellen Projektil stammen aus Wien. Die hat nämlich der Markus Redl erfunden.

Er ist eben ein fundamentalistischer Perfektionist. Drum gibt’s bloß drei "Flusssteine", wenn man so will. Weil er bei seinen Skulpturen auch immer "zwänglerischer" wird. Unterschiedliche Steinsorten nahtlos miteinander verschleift oder die makellose Glätte minutiös mit der pingeligen Gravurnadel aufraut.

Treffen sich ein Portugiese, ein Belgier und ein Italiener . . ., nein, das ist kein Witz, das ist eine Skulptur. Eine martialische. Ein Projektil aus einem Rosa Portogallo hat einen schwarzen Kern (bzw. ist das eine Intarsie) aus einem Nero Belgio, in den ein "ABER" eingraviert ist (der Einwand als Zündstoff für den Konflikt). Im vermeintlichen Sockel aus weißem Carrara-Marmor aus Italien (das ist kein Sockel, das ist Teil des Werks) ist wiederum ein "EGAL" eingelegt worden.

Darüber hinaus ist das Geschoss über und über mit Hieroglyphen und mysteriösen Schriftzeichen überzogen. "Und das Gemeine ist", gibt der Redl zu, "dass der Großteil davon erfunden ist." G laubwürdig erfunden. Krieg ist zeitlos, den hat’s immer schon gegeben und überall. Denn: "Kriege führen ist das Menschlichste. Ist super menschlich." 

Und worauf zielt es, das multikulturelle Projektil? Auf eine friedliche Buchstütze für zwei, die Morgen- und Abendland aussöhnt. Auf der einen Seite das arabische Inschallah ("so Gott will"), auf der andern das griechische A und O. Einträchtig können sich da zwei gegenüberstehen und still ihren Koran und ihre Bibel lesen (oder sich weniger einträchtig mit der jeweiligen heiligen Schrift missionarisch niederschreien). Der Bildhauer hat noch einen anderen Vorschlag: "Kannst da aber auch den Karl Marx herlegen und hier den ,Arschloch-Faktor‘." (Robert I. Sutton: "Der Arschloch-Faktor: Vom geschickten Umgang mit Aufschneidern, Intriganten und Despoten im Unternehmen." Klingt durchaus wie das Kontrastprogramm zu Marx.)

Der Markus Redl hat eine Buchstütze für zwei gemeißelt. Auf dieser Seite steht "Inschallah"  auf Arabisch, auf der andern das griechische A und O. ("Stein 159 - 160 (Wendemittel II).") Hinten: die Aula vom Justizpalast in Wien (aus dem "Ring-Zyklus I").

Genau genommen zeigt die Geschoss-Spitze darüber hinweg und mehr auf die Aula vom Justizpalast (ein Blatt aus dem "Ring-Zyklus"), in deren architektonischen Schmuck der Redl den ersten Satz aus Kafkas "Prozess" integriert hat. ("Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.") Der Josef K., ausgeliefert einer undurchschaubaren bürokratischen Gerichtsbarkeit, wird freilich zum Schluss erstochen , nicht erschossen . 

Hinter dem Geschoss: das Gegenstück. Dieselbe Eingangshalle, diesmal eingefügt der Anfang von Kleists Novelle "Michael Kohlhaas" über ein anderes Justizopfer, das daraufhin jedoch maßlose Selbstjustiz übt. ("An den Ufern der Havel lebte . . ." und so weiter. Havel – wieder ein Fluss. Allerdings einer mit Ufern.) Hat der Redl, der sich da für das Verhältnis zwischen Recht und Gerechtigkeit interessiert (und der, bevor er an der Angewandten beim Erwin Wurm in der Klasse war, am Juridicum Psychologie studiert hat – mit dem Schwerpunkt Kriminologie), hat der etwa der Statue der Justitia das Gesetzesbuch vom Schoß geflaucht?

Und noch der dritte "Flussstein": drei Steine in einem. Weißer Carrara-Marmor, Nero Belgio und Rosa Aurora. ("Stein 161" von Markus Redl.)

Eine anspruchsvolle Ausstellung, die einen echt fordert und mitunter über fordert, die ausufert und zugleich höchst konzentriert bleibt. Absolut besuchenswert und handwerklich sowieso mustergültig. (Auch wenn ich mir zwischendurch gewünscht habe, der Markus Redl würde sich endlich einen Fernseher anschaffen und weniger lesen. Hätte ich nicht so viel googeln müssen.)

Di. – Fr.: 11 – 18 Uhr