Der kurze Traum vom schwulen Kommunismus - queer.de

2022-10-14 10:34:57 By : Ms. Susan Zhou

Im Mai 1990 besetzten junge Linke mehrere Häuser in der Mainzer Straße in Ostberlin. Das Schwule Museum erinnert an das wohl spektakulärste Hausprojekt: das bis heute legendenumwobene Tuntenhaus Forellenhof.

"Ich bin Helga Krenz, die ehemalige Gattin des Generalsekretärs Egon Krenz", gibt eine mit Perlenkette und knallrotem Samthut aufgetakelte Tunte in einer kurzen Videocollage zu Protokoll. Sie sitzt im Innenhof der Mainzer Straße 4 im Kreise dreier weiterer Tunten, die sichtlich amüsiert dem kurzen autobiografischen Abriss Helgas lauschen und dabei rauchend den Blick gen Himmel schweifen lassen: Nach den aufreibenden politischen Tätigkeiten des vorangegangenen Jahres sei die DDR "wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen", erzählt Helga. Es drohte ein gänzlich unglamouröser Lebensabend allein mit Egon im Schrebergarten. Diese deprimierende Perspektive veranlasste sie, mit ihren Freundinnen bei Kaffee und Kognak neue, aufregende Zukunftspläne zu schmieden. Am Ende der Zusammenkunft stand dann der Plan, ein Haus zu besetzen. Nicht irgendein Haus, sondern "ein Haus für Schwule".

Helga ist eine Kunstfigur, ihre Biografie ist so echt wie ihre Oberweite aus Schaumstoff. Echt hingegen ist ihre Sehnsucht nach einer gleichermaßen antipatriarchalen, ergo homofreundlichen wie antikapitalistischen Gesellschaft. Diese Utopie teilt sie mit ca. 30 weiteren Schwulen, mit denen sie das Tuntenhaus kurz zuvor aus der Taufe gehoben hat. Es ist der Sommer 1990. Ein altes Regime ist soeben untergegangen, ein neues aber ist noch nicht errichtet. Für einen kurzen Wimpernschlag der Geschichte scheint nahezu alles möglich, selbst der schwule Kommunismus.

Einer der damaligen Protagonisten des Tuntenhauses ist Bastian Krondorfer, der nun im Schwulen Museum in Berlin eine multimediale Ausstellung unter dem Titel "Tuntenhaus Forellenhof 1990: Der kurze Sommer des schwulen Kommunismus" kuratiert hat. Im Zentrum der Ausstellung steht das Esszimmer mitsamt eines prall gedeckten Tisches. Ein großer Brotkorb, ein riesiger Pott Senf, Nutella, leere Bierflaschen, ein bunter Blumenstrauß, eine Ausgabe des "Neuen Deutschland" mit Gregor Gysi und Helmut Kohl auf dem Frontcover und Haufenweise überfüllte Aschenbecher zieren den Tisch, der einen gleichermaßen chaotischen, leidenschaftlichen wie herzlichen Eindruck vermittelt. Hier wurde debattiert und gestritten, über Kleinigkeiten und Banalitäten genauso sehr wie über das Große und Systematische.

Um das Esszimmer herum reihen sich diverse Stationen, die mittels Texttafeln sowie Bild- und Videocollagen verschiedene thematische Aspekte rund um das Tuntenhaus beleuchten. In einem der ausgestellten Videos befragt Krondorfer etwa den ehemaligen Neonazi Ingo Hasselbach, der damals einer von drei Rädelsführern des neonazistischen Wohnprojekts Weitlingstraße 122 in Berlin-Lichtenberg war. Von dort aus verübten Hasselbach und seine damaligen Kameraden regelmäßige Hetzjagden auf alle Menschen, die in ihren Augen "linke Zecken" waren. Mitglieder und Sympathisant*innen rund um die besetzten Häuser der Mainzer Straße boten sich für tätliche Übergriffe förmlich an, wobei das Tuntenhaus als explizit schwules wie kommunistisches Wohnprojekt in besonderer Weise als Feindbild taugte.

Die Kehrseite der lustvollen Zeit

Die Nazis mussten jedoch ihrerseits mit Gegenwehr aus der gut vernetzten autonomen Szene rechnen, sodass direkte Aufmärsche der Rechten im schon damals stark antifaschistisch geprägten Friedrichshain eher die Ausnahme blieben. Hasselbach, der bis zu seinem Ausstieg aus der Naziszene im Jahr 1993 einer der wichtigsten Protagonisten der sich nach der Wende neu formierten Naziszene Ostdeutschlands und ein enger Weggefährte von Michael Kühnen war, gründete später das bis heute bestehende Ausstiegsprogramm für Neonazis "exit". Der euphorische Tatendrang der jungen Tunten jener Zeit fußte allerdings zum Teil auch auf der Verdrängung unliebsamer und düsterer Aspekte wie der damals in brutaler Weise wütenden Aids-Pandemie. Wenngleich die von Aids ausgehenden Gefahren Anfang der 1990er Jahre schon hinlänglich bekannt waren, dominierte bei den meisten Bewohnern des Tuntenhauses nach den in sexueller Hinsicht meist entbehrungsreichen Jahren der Adoleszenz das Bedürfnis, das eigene Begehren nun frei von Beschränkungen und fernab biederer Moralvorstellungen ausleben zu können. So entwickelten sich mannigfaltige und vielfach verschränkte Liebes- und Sexualbeziehungen – Monogamie hingegen galt als bürgerliches Besitzdenken, das zu überwinden ist. An die Kehrseite dieser lustvollen Zeit erinnert in der Ausstellung eine Gedenkwand, auf der diverse Namen ehemaliger Hausbewohner und ihre jeweiligen Todesdaten zu lesen sind – mit einer roten Schleife bei jenen, die an den Folgen von Aids starben. Der lange Winter des nationalchauvinistischen Übermuts

Im Rückblick erscheint das jähe Ende der diversen Wohnprojekte innerhalb der Mainzer Straße geradezu unausweichlich und logisch: Mit dem Untergang der DDR war für wenige Monate ein rechtliches Vakuum entstanden, innerhalb dessen sich kulturelle und politische Projekte in freien Assoziationen entwickeln konnten – fernab staatlicher Restriktionen und den üblichen Schikanen der Sicherheitsbehörden. Zugleich aber befand Deutschland sich 1990 im Einheitstaumel, der Ostteil Deutschlands konnte die Einführung der D-Mark kaum erwarten, und die Wiedervereinigung wurde im Schnellstverfahren eingeleitet und abgeschlossen. Damit einher ging auch die Wiederherstellung von Recht und Ordnung und die Selbstvergewisserung der eigenen Dominanzposition vonseiten des Staates: Trotz heftigster Gegenwehr der linken Szene und einem beachtlichen medialen Echo an Solidaritätsbekundungen weit ins bürgerliche Lager hinein war die gewaltsame Räumung mitsamt Wasserwerfern und einem aus allen Bundesgebieten zusammengetrommelten Aufgebot an 3.000 Polizisten nach einer dreitägigen Straßenschlacht letztendlich erfolgreich – auch dieses unliebsame Kapitel, verantwortet von einem rot-grünen Senat, wird in der Ausstellung eingehend beleuchtet. Nicht einmal einen Monat nach der Räumung – im Dezember 1990 – wurde Helmut Kohl schließlich mit beeindruckender Mehrheit im Amt des Bundeskanzlers bestätigt. Die kommenden Jahre waren geprägt von sozialen Verwerfungen, Arbeitslosigkeit, Anschlägen auf Flüchtlingsheime und einer in der Geschichte beispiellosen Asylrechtsverschärfung. Damit war der kurze Sommer des schwulen Kommunismus einem langen Winter des nationalchauvinistischen Übermuts gewichen.

Links zum Thema: » Mehr Infos zur Ausstellung auf der Homepage des Schwulen Museums

Mehr queere Kultur: » auf sissymag.de

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