ZEIT ONLINE

2022-10-09 16:34:17 By : Ms. Cassiel Zhou

Es fällt nicht gleich auf, zwischen den Inseln, den Brücken und dem Wasser, doch in Wahrheit ist Stockholm eine Hochgebirgsregion. Wie sonst wäre die schwedische Extrembergsteigerin Renata Chlumska darauf gekommen, eine Tour per App zu entwickeln, bei der man sieben Stockholmer Berge erklimmt? "Seven Summits" heißt diese Tour auch noch, wie die höchsten Gipfel der sieben Kontinente.

Sieben sind ja eher wenig, zum Beispiel weniger als acht. Sollte ich schaffen. Ich lade die App Storyspot auf mein Handy, tippe "Seven Summits" ein – schon zeigt sie mir die Berge an, die es zu bewältigen gilt. Renata hat jeden nach einem der echten Seven Summits benannt, und auf jedem Gipfel wird eine Erzählung von ihr über die Besteigung des Originals freigeschaltet. Ich überlege mir eine Route vom Denali bis zum Mount Everest und miete ein Rad, um von Berg zu Berg zu gelangen.

Renata Chlumska bezwang 2014 als erste Schwedin die echten Seven Summits. Einheimische vergleichen sie mit Reinhold Messner. Ich stelle mir Messner als 48-jährige Frau vor, die Schwedisch spricht, und komme so erstaunlich schnell zum Hagapark. Der war für mich bisher, obwohl ich oft in Stockholm war, eine Terra incognita. Schön hier! Viel Wald und Wiesen; auf einem See schaukeln Boote. Ich passiere ein Anwesen hinter hohen Hecken. Einheimische erzählen mir, dass das Prinzenpaar hier in Schloss Haga sein königliches Basecamp aufgeschlagen habe. Der Prinz sei oft im Park beim Joggen zu sehen. Ich kann ihn jedenfalls nicht begleiten, denn vor mir ragt der Denali/Haga Kullen auf. Rad ins Gebüsch und durchs Unterholz nach oben geklettert. Auf 72 Metern liegt ein Plateau zwischen Bäumen, die einen Blick auf die Autobahn E4 freigeben. Etwas blechlastig, das Panorama. Passt aber, weil Renata in der nun freigeschalteten Erzählung über den Denali in Alaska einen Abhang namens "Autobahn" erwähnt.

Aus Amerika fahre ich zum Elbrus/Vanadislunden. Der liegt in einer Gegend, die tatsächlich Sibirien heißt: Als im 19. Jahrhundert dort gebaut wurde, galt sie als entlegen. Heute zahlt man viel, um in Sibirien zu wohnen, ist ja zentral. Am Fuß des 43-Meter-Bergs gibt es Antiquitätenläden, oben wurde – mitten im Gebirge! – eine rudimentäre Infrastruktur errichtet: Kirche, Wasserreservoir, Hundewiese.

Hinter mir marschiert eine ganze Schulklasse herauf. "Wir spazieren jeden Tag eine Viertelstunde", erzählt die Lehrerin, "um den Kopf zu lüften." Beim Abstieg begegnen mir noch zwei weitere Schülergruppen – das Hirnlüften scheint eine schwedische Tradition zu sein. Ich setze sie per Rad fort, erklimme Gipfel Nummer drei (Carstensz-Pyramide/Långholmen) und dann den Kilimandscharo/Skinnarviksberget: Der liegt in Södermalm und ist mit 53 Metern die höchste natürliche Erhebung der Innenstadt. Oben: Alpinflair! Eine Felskuppe, auf der gipfelkreuzgleich ein Mast aufragt. Menschen picknicken drumherum, machen Fotos vom Blick aufs Rathaus und die Altstadt. Renata erzählt dazu in der App, dass der echte Kilimandscharo jährlich fast 70.000 Leute anziehe. Ich entdecke, dass auch Fotos freigeschaltet werden; eines zeigt sie vor einem Schild: "Africa’s Highest Point". An meinen Gipfelmast hat jemand einen Aufkleber gepappt: "Nett hier. Aber waren Sie schon mal in Baden-Württemberg?"

Bei mir setzt jetzt ein Schwächegefühl ein. Klar; man kann nur kurze Zeit in extremer Höhe überleben. Rasch auf den Aconcagua/Tantolunden (nette Kleingärten!) und den Mount Vinson/Vita Bergen (Gipfelspielplatz!). Und nix wie rauf auf den Mount Everest/Hammarbybacken: Auf rund 90 Meter Höhe weht Wind. Leute sausen eine Sommerrodelbahn nach unten, wo die Häuser des Stadtteils Hammarby Sjöstad hell in der Sonne blitzen. Ganz anders als die Innenstadt – ein neues Stockholm habe ich heute entdeckt.

Als man George Mallory in den 1920ern fragte, wieso er auf den Everest wolle, sagt Renata, "war die Antwort: ›weil er da ist‹. Warum hast du den Hammarbybacken erklommen?" – Das ist eine gute Frage. Über die ich nicht nachdenken will, nachdem ich alle Berge geschafft habe.

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Das Kinderzimmer sieht aus, als sei der Teenager, der darin wohnt, nur kurz nach draußen gegangen. Auf dem Bett liegen Shirts wie gerade gewechselt, auf dem Schreibtisch steht ein leerer Teller neben einem Monitor, auf dem World of Warcraft läuft. Klein und unauffällig wirkt der Raum, am Fenstergriff hängt eine rührende Hampelmann-Froschfigur – das Zimmer eines Menschen, den es nicht ins Rampenlicht drängt. Der Junge ist gegangen, für immer: Tim Bergling, aufgewachsen in Stockholm, weltberühmt unter dem Namen Avicii als DJ und Produzent von Stars wie Madonna und Coldplay, nahm sich mit 28 Jahren das Leben. 2018 war das. Seine Musik, darunter Hits wie Levels und Wake Me Up, ist noch da – und die Avicii Experience: Das Museum zeichnet Berglings Leben nach, von den ersten Tracks, die im Kinderzimmer entstanden, bis zu seiner Villa in Los Angeles. Auch als Nicht-Fan ist man berührt. Vielleicht weil so viele Originalsachen ausgestellt sind. Vielleicht weil nicht nur der Star, sondern auch der Mensch gezeigt wird, der körperliche und psychische Probleme hatte und dem bis zum Ende der Kinderzimmerjunge aus dem Gesicht lächelte.

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Stellen Sie sich vor, Sie erhalten einmal im Leben den Nobelpreis – und dann findet die große Verleihungssause samt Festbankett in Stockholm nicht statt. So geschehen in den vergangenen beiden Jahren, weil ein Virus dazwischenkam. Fast könnte man Nobelpreisträgermitleid kriegen. Immerhin: Beim diesjährigen Event sind alle, denen es so erging, zum Mitfeiern eingeladen. Eine Ahnung, was sie erwartet, vermittelt eine Ausstellung im Nobelpreismuseum. Sie ist dem Bankett im Blauen Saal des Rathauses gewidmet, das viele Schweden begeistert im Fernsehen verfolgen. Gezeigt werden Geschirr, Einladungen, Kleider – und ein spezieller Stab: Mit dem messen die rund 30 Leute, die mindestens einen Tag lang mit Tischdecken für die rund 1300 Gäste beschäftigt sind, den Abstand zwischen den Tellern; exakt 36 Zentimeter müssen es sein. Man erfährt, dass im Jahr 2019 für den Nachtisch 350 Kilo Himbeeren benötigt wurden, hört Dankesreden, sieht Fotos vom Tanz. Werfen Sie zum Schluss einen Blick ins Museums-Bistro: Es wurde umgestaltet; freitagabends finden dort jetzt Veranstaltungen statt – Konzerte von Künstlern, Vorträge von Preisträgern (reservieren!). Falls Sie erst anreisen, wenn die Bankett-Ausstellung Ende Februar vorbei ist: Im Restaurant Stadshuskällaren können Sie, wenn Sie fünf Tage vorher buchen, immer das jüngste Nobelmenü essen. Nach Originalrezept, auf Originalgeschirr. Im Keller des Originalrathauses, in dessen Blauem Saal wohl bald wieder nobeldiniert wird.

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Keine Ahnung, warum Sie in eine Bar gehen – ich gehe dorthin, um zu trinken. "A bar called Gemma" ist so gesehen ein Volltreffer. Die rund 20 Cocktails auf der Karte sind fast alle Eigenkreationen und wechseln regelmäßig. Sie kriegen hier also Sachen, die Sie noch nie getrunken haben, nirgendwo anders trinken können und nie wieder trinken werden. Ein paar Drinks gibt es zum Glück immer, etwa den "Pearly White" mit japanischem Reiswodka, Jasmin, Rosenwasser und Verjus. Er wird karbonisiert serviert in einem hauchdünnen Glas und schmeckt unglaublich frisch und blumig; nach einem Hauch Parfum. Als Gast müssen Sie sich nicht groß stylen. Auch die Bar ist gemütlich-unprätentiös: fünf Tische, ein Tresen, an den Wänden Regale, gefüllt mit Zutaten. Ein kleines Nachbarschaftswohnzimmer von Leuten, die Ahnung von Cocktails haben – und von Understatement.

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Auf dem Teller liegt ein Champignonkopf, zerschnitten in verschieden große Stücke: eine Hälfte gedünstet, ein Viertel gegrillt, ein Achtel im eigenen Saft gebrüht, ein Achtel geräuchert. Dazwischen klemmen rohe Pilzscheibchen; und alles ruht auf einem Bett aus eingekochter Pilzbouillon. Dieser kompliziert zubereitete Champignon ist ein Gericht im Restaurant Brutalisten. Eröffnet hat es der deutsche Künstler Carsten Höller, gekocht wird nach einem Manifest und so streng-linear, wie die Architektur des Brutalismus oft aussieht: nur eine Zutat plus Wasser und Salz pro Gericht. Was das soll? Mal den Pilz kosten. Oh. Jedes Stück schmeckt anders, die Konsistenz variiert, die Bouillon ist pilziger als jede Waldpilzsauce. Hier wurde nichts dazwischengewürzt, volle Kraft dem Champignon! Das enge Konzept ist ein Reset für den Geschmackssinn. Man muss einige Gerichte bestellen, um satt zu werden. Und eine Frage bleibt: Kann man auch andere Baustile essen?

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Erst mal bücken und betasten, worauf man gleich Ski fahren wird: Eine Piste aus stoppeligen grünen Matten, mit langen Schrauben in den Untergrund gedreht. Fühlt sich hart an. Und piksig. Ob man darauf Schwung kriegt? Und wieder bremsen kann? Die Piste führt den Stockholmer Hausberg hinab – und der ist ein Beispiel dafür, dass sich nicht nur eine rothaarige Kinderbuchschwedin die Welt so zu machen versteht, wie sie ihr gefällt: Über die Jahre wurde der Hammarbybacken (vgl. Punkt 1) mit Aushub von Baustellen erhöht, von 55 auf seine heutigen rund 90 Meter. Er bekam einen Lift und Pisten im Winter, 2016 fanden hier sogar Weltcup-Rennen statt. Seit Juni gibt es nun eine Sommerrodelbahn und Gummireifen, auf denen man einen Abhang hinunterrutschen kann. Und seit September die aus teilweise recyceltem Plastik bestehende Sommerpiste. 470 Meter ist sie lang. Und, ja, man kriegt Schwung und kann bremsen. Ich rausche hinunter bei Sonne, ein vertrautes Zischen unter den Brettern. Keine plötzlichen Eisflächen, Buckel oder Sulzschneestellen! Okay, und kein stiebender Schnee. Ist halt kein Alpengletscher. Noch nicht.

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Kennen Sie Dagmar und Frantz? Nein, das ist kein neues Promipaar (auch wenn "Fragmar" klingt wie eine schwedische Version von "Bennifer"). Frantz Bock war ein Schneider, der sich 1647 im Stadtteil Södermalm ein Atelierhaus bauen ließ. Man weiß, dass er zwei Mitarbeiter hatte und ein Pferd. Dagmar Bergsten, Jahrgang 1876, war eine lebensfrohe Dame, die mit ihrem Gatten Karl im Bezirk Diplomatenstadt lebte; sie reiste viel, hatte Freunde im Ausland und sammelte Kunst. Bei beiden können Sie jetzt wohnen: Dagmar und Frantz wurde je ein neues Hotel gewidmet – beides Boutiquehotels, beide geführt von Familien.

Die Villa Dagmar, eröffnet von Dagmars Urenkeln im Nobelstadtteil Östermalm, ist inspiriert vom Sommerhaus der Bergstens, das wiederum inspiriert war von mediterranen Villen. Heißt: In der Lobby Marmor-Kalkstein-Boden, Blumen und wechselnde Kunstaustellungen; die Zimmer sind hell mit ein paar Farbtupfern und eleganten dunklen Holzbetten. Das Restaurant im glasüberdachten Innenhof kocht mediterran, die Weinbar serviert 40 Weine glasweise. Doch bevor Sie sich festtrinken, schauen wir mal zu Frantz: Das dem Schneider gewidmete Hotel ist im Originalhaus untergebracht und damit in einem der ältesten der Stadt. Das klingt nicht nur urig, sondern ist es auch. Das Restaurant liegt in einem schummrigen Gewölbekeller, die Treppen zu den oberen Stockwerken sind herrlich abgetreten von vielen Füßen und der Zeit. Das ganze Gebäude ist verwinkelt, die Einrichtung auf seine Besonderheiten zugeschnitten – man muss den Denkmalschutz nicht lieben, aber beachten.

Bei Frantz wohnen Sie nostalgisch-entspannt: samtbezogene, breite Betten, Chaiselongues, goldene Garderobenhaken – Bäder mit knallfarbenen Fliesen und Wannen mit Füßchen. Morgens im Frühstücksraum fragt man sich, ob der Schneider ein guter Frühstücker war: gleich mehrere Kuchen, Kekse, Aufschnitt, Eier, Speck, Früchte, alkoholfreier Sekt.

In welchem Hotel Sie sich nun einquartieren sollten? Ãœberlegen Sie einfach: Sind Sie eher eine Dagmar oder ein Frantz?

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Nach dem Einsteigen in den Snälltåget unbeschreibliches Entsetzen, ausgelöst durch eine Tafel. Die listet die Brücken und Tunnel der Nachtzugstrecke nach Stockholm auf, samt Notfallinfos. Zur Rendsburger Hochbrücke: "Es ist nicht möglich, die Brücke ohne Hilfe des Rettungsdienstes zu verlassen." Der Tunnel unterm Großen Belt ist ganze acht Kilometer lang, ebenso die Öresundbrücke, die "alle 650 Meter Nottreppen zur Autobrücke" hat. Und so weiter. Wie soll man Norddeutschland und dieses brandgefährliche Dänemark überstehen? In der Nacht ein Klopfen. Der Rettungsdienst?! Passkontrolle. Am Morgen sieht es draußen harmlos schwedisch aus. Seit einem Jahr fährt der Snälltåget von Berlin via Hamburg nach Stockholm und seit Kurzem die Bahngesellschaft SJ ab Hamburg-Altona. Für Nichtneurotiker ideal, um im Schlaf nach Schweden zu reisen.

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So ein Städtetrip setzt Schuhen zu. Neue kaufen? Nicht in Schweden, dem Land der Nachhaltigkeit! Hier gibt es: eine Schuhreinigung. Sneakerstvätten, gegründet letztes Jahr in Södermalm, säubert von Hand fast alles, worin man laufen kann. Der Preis variiert, eine eintägige Standardwäsche kostet 36 Euro; es geht aber auch in einer Stunde. Sie können Ihre Schuhe auch reparieren lassen oder komplett umdesignen: neue Materialien, andere Muster, wildere Farben.

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Man kann sich bei diesen lustigen Schweden ja manches fragen. Etwa: Warum soll ich mir ein zweites Museum über tote Schiffe anschauen? Wo es in Stockholm schon die Vasa gibt: ein gigantisches Kriegsschiff aus dem 17. Jahrhundert, das noch gigantischer fehlkonstruiert war, sodass es nach wenigen Hundert Metern Jungfernfahrt sank – und seit ein paar Jahrzehnten in einer Halle thront; vor der Pandemie war es das meistbesuchte Museum Skandinaviens. Mal rüberlaufen zum neuen Schwestermuseum Vrak, auch auf der grünen Insel Djurgården, an deren Ufer Boote verträumtvertäut auf den Wellen schaukeln. Im Erdgeschoss: Halbdunkel und Wassergurgeln, an eine Wand ist ein muschelüberwuchertes Schiffsgerippe projiziert, auf den Boden ein Durcheinander aus Planken gedruckt. Man spaziert virtuell auf dem Meeresgrund im sagenumwobenen Wrack Resande Man herum. Der obere Stock ist weiteren Ostsee-Wracks gewidmet, vom Steinzeitkanu bis zur 1994 untergegangenen Fähre MS Estonia. Die Schiffe selbst hat man im Meer belassen, wo sie besser erhalten bleiben. Gezeigt werden Modelle – und: Luxusgüter, die die niederländische Vrouw Maria 1771 an den Zarenhof bringen sollte. Ein Film über das deutsche U-Boot U-479, das im Zweiten Weltkrieg Opfer einer Unterwassermine wurde. Herzzerreißend anzuhören ist der letzte Funkkontakt der sinkenden MS Estonia. Dies ist kein Museum über tote Schiffe. Vrak erzählt von Handelsrouten, Reisewegen und Kriegen, von Träumen und Tod – es ist ein Museum über Menschen.

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Mit einer wohl gefüllten Geldbörse lässt sich sogar in S gut leben...aber nur in den Städten. Anderswo hapert es gewaltig an ökologischen Waren, dazu der Erwachsenen-Kindergarten (staatl. Alkohol-Monopolläden mit z.T. erheblich überhöhten Preisen).

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