Frühnebel über San Francisco
Ein Bild für San Francisco? Vielleicht dies: Auf einer Kreuzung an der Market Street im Herzen der Stadt halten hintereinander an einer Ampel: ein Porsche Carrera, ein Ferrari Testarossa, ein Tesla. Nur ein paar Meter weiter lässt ein Obdachloser die Hose herunter und entleert im Stehen seine Fäkalien auf den Bürgersteig. Die Passanten in der morgendlichen Rushhour schauen kaum auf. Gleichmütig zieht der Penner seine Hose wieder hoch.
San Francisco ist ein seltsamer Ort, selbst in einem extremen Land.
Die Weltmarken des Internetzeitalters - Twitter, Google, Airbnb, Uber - errichten hier neue, kühne Hauptquartiere und Niederlassungen. Die Lobbys sind aus Marmor, der Blick geht weit über die blaue Bucht. Für die Mitarbeiter gibt es in der Mittagspause kostenlos Bioerdbeeren und frische Austern. Vor den Eingängen liegen zerbrochene Crackpfeifen, lungern Junkies herum. Die heben den Müll auf und bewerfen damit Angestellte, die auf 2000-Dollar-Rennrädern an ihnen vorbeirasen.
San Francisco boomt, Zehntausende ziehen jedes Jahr neu in die Metropolregion, Softwareentwickler, Ingenieure, Designer; sie verdienen 150.000 Dollar aufwärts. Tausende aber verlassen jedes Jahr die Stadt, Lehrer, Polizisten, Arzthelferinnen, sie verdienen 70.000 Dollar oder weniger. Einfache Dreizimmerwohnungen kosten knapp 5000 Dollar Miete im Monat, in guter Lage über 7000. Es gibt in der Bay Area 55 Restaurants mit Michelin-Sternen und allein in San Francisco 56 Suppenküchen. Es gibt fast 3000 Start-ups und mindestens 7500 Obdachlose.
Es gibt immer mehr Menschen, die es sich leisten können, zwei Wohnungen zu kaufen, und immer mehr Menschen, die es sich nicht leisten können, zwei Zimmer zu mieten.
San Francisco symbolisiert wie kein anderer Ort das Dilemma, in dem sich Amerika in diesen Tagen vor der Präsidentschaftswahl befindet. Die nordkalifornische Stadt und das restliche Land sind mächtig und ohnmächtig, überambitioniert und überfordert, unfassbar reich und unsäglich arm.
Amerika war immer ein Land der Extreme, wunderschön und abstoßend brutal, voller Möglichkeiten und entsetzlich unfair. Lange haben diese gegensätzlichen Pole das Land in der Balance gehalten, vielleicht stark gemacht. Aber 2016 hat sich Amerika aus dem Gleichgewicht katapultiert. Zwischen den Polen kämpft die breite Mitte, reibt sich auf, zerfasert.
Diese Entwicklung hat sich seit Jahrzehnten angedeutet, im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf hat sie nun ihren Katalysator gefunden. Amerika marschiert in einen Klassenkampf zwischen wohlhabender Elite und großem Rest, der sich die Boomtowns nicht mehr leisten kann.
Die soziale Mobilität ist fast zum Erliegen gekommen. Aufstieg beschränkt sich darauf, von den reichsten 20 Prozent in die reichsten 10 Prozent vorzustoßen. Wer dagegen zur unteren Hälfte gehört, steckt nahezu fest. Der Aufstieg vom Tellerwäscher zum Millionär ist nur noch ein Mythos.
Amerika ist unruhig, das ist überall zu spüren, an den Stränden Kaliforniens genauso wie zwischen den Wolkenkratzern New Yorks. Die wichtigste, selbstsicherste, arroganteste Nation der Welt wirkt unzufrieden, ängstlich, angespannt. Die Mittelschicht hat den Absturz vor Augen. Was passiert gerade, fragt sie sich, warum bleiben wir, denen es doch gerade noch gut ging, plötzlich auf der Strecke?
Fortschrittsbegeisterung, ein so amerikanischer Charakterzug, scheint zunehmend naiv: Zwar sieht das 21. Jahrhundert langsam so aus wie einst von "Star Trek" erträumt, Autos fahren ohne Fahrer, die ganze Welt ist vernetzt. Zugleich aber stagnieren die meisten Einkommen, verschwinden die Jobs. Kann es sein, dass der Fortschritt nicht ein besseres Leben für alle bringt, sondern nur für 20 Prozent?
Und es stellen sich neue Fragen: Ist das amerikanische System, weltweit führend seit hundert Jahren, ein Auslaufmodell? Ein Staat nur noch für die Reichen?
Ein Fünftel aller amerikanischen Kinder gilt als arm. Nicht nur Anhänger von Donald Trump fürchten, dass Amerika nicht mehr great ist - jedenfalls nicht für 80 Prozent der Bevölkerung.
In vielen internationalen Studien sind die USA längst nicht mehr Spitzenreiter. Die Menschen finden andere Länder lebenswerter, Skandinavien etwa und erstaunlich oft Deutschland, weil dort anscheinend jene Konzepte Stabilität verleihen, die Amerika gern als "sozialistisch" verachtet: soziale Marktwirtschaft, Umverteilung, Arbeitnehmerrechte, freie Bildung. Ist Europa besser gewappnet für die Zukunft?
Früher hatten alle Amerikaner mehr als der Rest der Welt: die Armen, die Mittelklasse, die Reichen. "1960 waren wir extrem viel wohlhabender als alle anderen, 1990 immer noch", sagt der Harvard-Ökonom Lawrence Katz. "Heute dagegen hat der durchschnittliche Amerikaner nicht mehr, als Angehörige der Mittelklasse in anderen Teilen der Welt besitzen."
Die reichen Amerikaner aber sind noch immer allen anderen überlegen, mehr sogar als je zuvor. Beim obersten Prozent konzentrieren sich über 40 Prozent des gesamten Wohlstands.
Straßenszene in San Francisco
Sichtbar werden die Bruchstellen vor allem dort, wo es besonders gut läuft, wo die Wirtschaft boomt. Und besonders gut läuft es in San Francisco, Hauptstadt des Silicon Valley, der erfolgreichsten Region Amerikas, Epizentrum der digitalen Transformation. Hier haben Google, Apple, Facebook und Tausende andere ihren Sitz. Zwischen 2010 und 2015 entstanden fast 400.000 neue Jobs. Manager und Politiker aus aller Welt reisen in einem endlosen Strom hierher, wollen lernen, kopieren. Es ist das Amerika, das beeindruckt, einschüchtert.
San Francisco steht für Zukunft, zivilisatorischen Fortschritt, Erlösung durch Technologie. Und doch ist gerade hier zu sehen, dass die Welt nicht nur schneller geworden ist, sondern auch brüchiger. Reicher und ärmer. Als ginge es vorwärts und zugleich zurück. Kann das sein?
San Francisco ist eine Stadt aus Glas - glänzend, hell und fragil.
Es gibt viele Menschen in San Francisco, die hoffen, dass der Techboom eine Spekulationsblase ist, die bald platzt, dass es den Techunternehmen schlechter statt immer besser geht. Es gibt Bars in der Stadt, in denen man kein T-Shirt von Google oder Apple tragen sollte. Ist das nicht eine merkwürdige Entwicklung, dass die Menschen ihre eigene Boomindustrie hassen, die Wohlstand und Weltruhm brachte?
"Ich verstehe die Regeln des Kapitalismus, wie Märkte funktionieren, aber das hier, das ist einfach abartig", sagt Martin Scott, muskulös und sehnig, die Arme tätowiert mit fernöstlichen Symbolen. Er ist Yogalehrer mit eigenem Studio in bester Lage, auf dem Russian Hill. Draußen rattern die Cable Cars vorbei, der Blick reicht bis Alcatraz.
Scott ist altes San Francisco: spirituell und intellektuell, ein bisschen esoterisch, ein bisschen Hippie. Der Summer of Love hat die Stadt über Jahrzehnte geprägt, heute muss man die Überreste suchen auf den Hausbooten vor Sausalito, in Kommunen auf der anderen Seite der Golden Gate Bridge.
Das neue San Francisco sieht so aus: In den Coffeeshops drängeln sich junge Männer und hacken lange Reihen von Zahlen und Buchstaben in ihren Laptop, Kauderwelsch scheinbar, aber es ist die wichtigste Sprache der Zukunft, Programmiercodes. Die meisten hier haben eine Start-up-Idee in der Tasche, arbeiten nebenher an einem "Pitch Deck", der Präsentation für Wagniskapitalgeber. Es geht darum, die On-Demand-Economy zu revolutionieren. Oder wenigstens eine Spiele-App fürs iPhone zu bauen.
Wenn das alte und das neue San Francisco aufeinandertreffen, ist es wie ein Clash der Kulturen. So wie Anfang des Jahres, als Martin Scott die Nachricht erhielt, vor der sich viele in der Stadt fürchten. Das Haus, in dem er sein Yogastudio gemietet hat, stand zum Verkauf. Ein altes Haus, Baujahr um 1910, etwas schrammelig, aber das ist egal in diesen Tagen, in denen Garagen in San Francisco für Hunderttausende Dollar verkauft werden.
Scott wollte das Haus kaufen, sein Yogastudio läuft gut, die Klassen sind immer voll, über hundert Dollar kann er für eine Stunde Einzelunterricht nehmen. Aber ordentlich zu verdienen reicht nicht, wenn es 25-Jährige gibt, die gerade ihre Aktienoptionen eingelöst haben und Millionen Dollar in Cash mitbringen. "Wir haben jeden Dollar zusammengekratzt", sagt Scott, für eine hohe sechsstellige Anzahlung. "Trotzdem hätte uns die Hypothek 11.000 Dollar im Monat gekostet."
Gleich um die Ecke von Scotts Studio war jahrelang ein kleines thailändisches Restaurant, Mittagskantine für die Nachbarschaft, neun Dollar für ein rotes Curry. Der Mietvertrag endete, der Besitzer wollte doppelt so viel. Der Thai zog aus, ein Biorestaurant kam rein, noch mehr junge Männer mit Laptop essen nun dort, 32 Dollar für gedämpften Kürbis, 100 Dollar inklusive Trinkgeld für ein Abendessen für zwei. Das kann sich nur eine Minderheit leisten. Aber wenn die Minderheit immer noch mehrere Zehntausend Menschen ausmacht, dann bestimmt sie die Preise, und die Mehrheit ist vernachlässigenswert.
"Wo bitte sind die Vorteile dieses Booms für die ganz normalen Menschen in dieser Stadt?", fragt Scott. Fast ein Drittel seiner regelmäßigen Studiobesucher hat in den vergangenen zwei Jahren die Stadt verlassen, resigniert. Proteste, Demonstrationen gibt es nur sporadisch. Es überwiegt das Gefühl, nichts tun zu können gegen so grundsätzliche Gegner: Kapitalismus, Fortschritt, Technologieboom.
So kann es nicht weitergehen, sagen sogar manche von denen, die der Boom reich gemacht hat, die sich noch verbunden fühlen mit dem Hippie-Ethos der Stadt. "Es gibt berechtigte Bedenken, dass sich San Francisco zu einer Plutokratie entwickelt", sagt Donna Burke, Unternehmerin und Investorin. "Das Silicon Valley legte ursprünglich mehr Wert darauf, die Welt zu verändern, als Geld zu verdienen, zu diesen Werten müssen wir zurück."
Nur: wie? Rund um die Welt ist eine ähnliche Entwicklung im Gange. Die globale, digitale Elite sammelt sich in wenigen attraktiven Städten mit boomender Wirtschaft und cooler Szene: Berlin, London, Tokio, New York. Das Leben in solchen Städten wird zum Luxusgut.
San Francisco ist keine große Stadt, eingeschränkt durch ihre geografische Lage: an der Spitze einer Halbinsel, an drei Seiten umgeben von Wasser. Das macht es ihr schwer zu wachsen. Über Jahrzehnte blieb die Einwohnerzahl stabil. Der Dotcom-Boom der Neunzigerjahre spielte sich nur im Silicon Valley ab.
Je teurer die Städte, desto größer die Konzentration an Gutverdienern, was den Preisanstieg noch weitertreibt.
Heute aber wollen die jungen Programmierer und Designer nicht mehr in Vorstädten leben, sie wollen Bars und Restaurants und Kultur. 2005 hatte San Francisco 780.000 Einwohner. 2016: 870.000.
Zur Mittagszeit bilden sich lange Schlangen vor den Restaurants, 17 Dollar für ein Sandwich zum Mitnehmen, dazu einen Sherpa Coffee mit geschmolzener Yak-Butter, handgeschöpft von vollbärtigen, tätowierten Männern, fünf Dollar die kleine Tasse. Oder das Sushi-Menü an der Bar, um ein neues Start-up zu feiern, 300 Dollar für acht Gänge.
16 Sorten Marihuana gibt es jeden Tag legal an Orten wie dem Apothecarium, dunkles Holz, ledergebundene Karte, ein Gramm "Granddaddy Purple" für 17 Dollar das Gramm. California Dreamin'.
Infrastruktur und öffentliche Verwaltung ächzen unter dem Zuwachs. Die Stadt plant nun, Wohnungen zu bauen, eigens um Lehrer in die Stadt zu locken: Job plus bezahlbare Unterkunft. Es ist der verzweifelte Vorschlag einer Stadtverwaltung, die sich ansonsten weitgehend macht- und willenlos zeigt, den von ihr mit enormen Steuererleichterungen für Techunternehmen angefeuerten Wandel zu entschärfen.
Die Stadt verfügt derzeit über ein Budget von 8,9 Milliarden Dollar, aber wo das Geld bleibt, ist vielen ein Rätsel. Seit Jahren strömen immer neue Obdachlose in die Wohnviertel, schlafen in Hauseingängen, durchwühlen den Müll. Um sie kümmern sich 15 städtische Sozialdienstmitarbeiter.
Der öffentliche Nahverkehr ist langsam und verhasst. Wer kann, nutzt private Minibuslinien. Die Monatskarte für 120 Dollar. Parken in der Innenstadt kostet 40 Dollar pro Tag.
Jeden Tag bringen Hunderte Firmenbusse Zehntausende Menschen aus der Stadt zu den Konzernhauptquartieren im Silicon Valley. Die leuchtend weißen, anonymen Busse sind zum Symbol geworden für eine abgehobene neue Elite, die sich absetzt vom Rest der Welt. Manchmal werden die Busse mit Steinen beworfen, die Fahrgäste werden aus vorbeifahrenden Autos beschimpft.
Ein Kampf zwischen oben und unten also? So muss es wohl sein: Eine dreiköpfige Familie zählt ab 125.000 Dollar in den USA offiziell zur Oberschicht. Und der Durchschnittsverdienst von Techarbeitern in San Francisco liegt bei 113.000 Dollar.
"Oberschicht, da kann ich nur lachen", sagt Frank Johnson, 41, verheiratet, zwei Kinder. Er arbeitet seit drei Jahren bei Apple, woran, darf er nicht sagen, seinen echten Namen will er nicht nennen, öffentlich über Gehälter zu reden wird nicht gern gesehen. Johnson verdient mehr als 150.000 Dollar im Jahr. Er sagt: "Das klang so viel, als ich die Zahl hörte." Ein Aufstieg, sicher den Umzug wert aus Texas.
Die Hauspreise sind Johnson erst später aufgefallen, "zu spät". 7500 Dollar Kaltmiete im Monat kostet das Vierzimmerhaus, nichts Besonderes, typisch amerikanische Holzwände, die Küche 25 Jahre alt, die Fenster einfach verglast. "Und das war noch ein Schnäppchen."
Hinzu kommen Kinderbetreuung und Schule, über tausend Dollar im Monat, "am Ende bleibt nichts übrig", sagt Johnson. Seine Frau, Krankenschwester, muss dazuverdienen, sonst reicht es nicht für Urlaub, die zwei Autos, einen VW Jetta, einen Ford Mustang.
Das vielleicht beste Indiz für den Irrsinn: In Palo Alto überlegt die Stadtverwaltung, Wohnungszuschüsse für Familien mit 150.000 Dollar Jahreseinkommen zu zahlen.
Es gibt viele solcher Techarbeiter, wohlhabend auf dem Papier und doch mit kaum genug Geld in der Hand, um sich einen gehobenen Lebensstil leisten zu können. Viele überlegen zu gehen, ziehen weiter raus, folgen den Lehrern und Polizisten. Mehrere Kollegen aus Johnsons Team pendeln jeden Tag ein, zwei Stunden ins Apple-Hauptquartier. 26 Prozent aller Softwareentwickler in San Francisco suchen laut einer aktuellen Studie aktiv nach einem Job außerhalb Kaliforniens.
Auch Johnson überlegt zu gehen, nach Oregon vielleicht oder zurück nach Texas. Dort gibt es auch Hipster und coole Coffeeshops und Sushi-Läden, nur für weniger Geld. Wenn auch nicht mehr lange. Die Techbranche expandiert rasend schnell nach Seattle, Portland, Los Angeles und vor allem nach Austin, die derzeit am schnellsten wachsende Großstadt der USA. Apple hat dort bereits seine weltweit zweitgrößte Niederlassung, ein Dutzend Gebäude auf über zehn Hektar.
Auch Google, Facebook und all die anderen sind inzwischen in Austin. In der Innenstadt schießen die gläsernen Bürotürme empor, die Zahl der Jobs ist seit 2010 um 20 Prozent gewachsen, die Einwohnerzahl um 17 Prozent. Johnson überlegt, ein Haus in Austin zu kaufen. Schnell, solange es noch geht. Ist es das nächste San Francisco? Es scheint so. Die Mieten stiegen 2015 um über sieben Prozent.
Zugleich hat ein Abstiegssog eingesetzt, der in vielen boomenden amerikanischen Städten zu beobachten ist: Je teurer die Städte werden, desto größer die Konzentration an Gutverdienern, was den Preisanstieg noch weitertreibt. Je mehr Möglichkeiten sich bieten für all die Neuankömmlinge mit Ressourcen und Status und dem richtigen Job, desto geringer werden die Möglichkeiten für den Rest. Trotz all der gut dotierten neuen Jobs und einer Arbeitslosenquote von nicht einmal vier Prozent ist der Anteil derer, die als arm gelten, seit dem Jahr 2000 sogar leicht gestiegen.
In vielen amerikanischen Städten bedeutet ein komfortables Einkommen nicht mehr zwangsläufig einen komfortablen Lebensstil. "Viele Menschen können sich leider nicht mehr den Lebensstandard leisten, den sie eigentlich erwarten", sagt der Politikwissenschaftler Robert Reich, der vielleicht wichtigste Linksintellektuelle im Land.
Amerika verliert nicht insgesamt an Wohlstand. Er wird nur anders verteilt
Das Problem Amerikas sind nicht mehr nur die Armen und Abgehängten, sondern die breite Mitte, die Angst hat abzusteigen. Der typische Trump-Sympathisant fällt genau in diese Kategorie. Trump-Anhänger verdienen im Schnitt 72.000 Dollar, deutlich mehr als im nationalen Mittel. Es sind längst nicht nur die Ungebildeten und Arbeitslosen, die den republikanischen Kandidaten unterstützen. Sondern jene, die Angst haben, sich ihren amerikanischen Traum nicht mehr leisten zu können. Enttäuschte Reaktionäre. Auch Revolutionäre? Manche sprechen schon von einem nahenden Bürgerkrieg.
Die Ängste sind begründet. Die amerikanische Mittelschicht schrumpft seit den Siebzigerjahren. Seit 2000 scheint sich der Prozess zu beschleunigen, die Mittelklasse verlor insgesamt in fast 90 Prozent aller US-Regionen an Boden. Die mittleren Einkommen fielen in 190 von 229 Städten. 2015 machte die Mittelschicht nicht mehr die Mehrheit des Landes aus.
Gleichzeitig wächst der Abstand zur Spitzengruppe der Gesellschaft. 1983 war die amerikanische Oberschicht dreimal wohlhabender als die Mittelschicht. 2013 schon siebenmal so viel. Amerika verliert nicht insgesamt an Wohlstand. Er wird nur anders verteilt. In den größten US-Städten schrumpft die Mittelschicht auch deshalb, weil der Anteil der Gutverdiener größer wird. Die Polarisierung nimmt zu, die Mitte wird zermahlen.
Seit 30 Jahren stecken die westlichen Volkswirtschaften inmitten einer Zeitenwende, einer Verschiebung von Industrie zu Dienstleistung zu Informationstechnologie, eingebunden in einen globalen Markt. Für die gut Ausgebildeten war das meist ein Segen, aber in Amerika gibt es viele schlecht oder gar nicht Ausgebildete. Ein deutscher Facharbeiter hat wenigstens drei Jahre im Unternehmen gelernt, ein amerikanischer hat Highschool-Abschluss, wenn überhaupt.
Nun beginnt bereits die nächste Zeitenwende, die Ära selbstständig lernender Maschinen und kluger Software, die erste Stufe künstlicher Intelligenz. Technologie soll den Menschen helfen, ihren Job besser und effizienter zu machen, so sagen es die Vordenker im Silicon Valley.
Aber solche Visionen verstärken das diffuse Gefühl der Unsicherheit im ganzen Land. Die Angst, dass an der eigenen Beseitigung gearbeitet wird: Kluge Software hilft dem Ingenieur und macht Unternehmen profitabler, aber ersetzt die Sekretärin und den Sachbearbeiter. Ökonomen warnen bereits vor dem Aufstieg einer Superelite, die alle Wohlstandsgewinne nahezu allein einfährt: auf der einen Seite die digitalen Anführer, auf der anderen eine neue Unterklasse, die Uber fährt und Pizza liefert. San Francisco überall.
Diese wachsende kulturelle Kluft zieht sich durch das ganze Land, hat Trump und Bernie Sanders hervorgebracht und dazu geführt, dass nun das halbe Silicon Valley über ein universelles Grundeinkommen nachdenkt: als finanzielle Absicherung für die Verdrängten, Abgehängten. Und als eigene Absicherung gegen die Wut, die ihnen jeden Tag vor der eigenen Haustür entgegenschlägt. Brot und Spiele?
"In 50 Jahren wird echte Chancengleichheit ohne eine Form von garantiertem Basiseinkommen unmöglich sein", sagt Sam Altman, 31 Jahre, seit über einem Jahrzehnt zur Avantgarde der Technologiebranche zählend. Ein Anführer im Silicon Valley. Altman ist Chef von Y Combinator, der größten Start-up-Maschine der Welt; Dutzende Gründer werden hier jedes Jahr in einer Art Gründungsuniversität geschult, wie sie die Welt erobern sollen. Viele Absolventen, die Gründer von Airbnb etwa, sind heute Milliarden Dollar schwer.
Wenn man ihn trifft, in einem überfüllten Café in der Innenstadt, in verwaschenem T-Shirt und Cargo-Shorts, sagt Altman gern solche Sätze: "Mir fällt kein Grund ein, warum es in 13 Jahren nicht möglich sein sollte, mittels Hardware mein Gehirn nachzubauen."
Im Frühsommer verkündete Altman ein Pilotprojekt: Y Combinator wird 100 benachteiligten Familien über sechs bis zwölf Monate zwischen 1000 und 2000 Dollar geben, zur freien Verfügung. Untersucht werden soll, wie ein solches Grundeinkommen die Zufriedenheit beeinflusst.
Dahinter steht trotz des optimistischen Tons eine im Grunde düstere Vision: Es geht, so sagt Altman, "um Alternativen zum existierenden sozialen Sicherheitsnetz". Für die Zukunft, wenn zu viele Menschen nicht genug verdienen, um sich das Leben leisten zu können. Nicht mehr nur an Orten wie San Francisco, sondern in immer mehr Städten.
Ist das der Weg aus der amerikanischen Krise, die Polarisierung akzeptieren, die einen werden immer reicher, die anderen versorgt dann eben der Staat? Einfach ruhiggestellt, damit sie nicht mehr Rattenfängern wie Trump hinterherlaufen? Andererseits: Ist das nicht Sozialismus pur? Unamerikanischer geht's nicht.
DER SPIEGEL 360-Grad-Pano-Video San Francisco für SPIEGEL Plus
"Wir brauchen ein neues Kapitel im amerikanischen Traum", so lautet ein Lieblingssatz von Hillary Clinton. Nächste Woche könnte sie zur neuen Präsidentin der USA gewählt werden. Ihre Hauptaufgabe sei dann, das sagte sie im Wahlkampf immer wieder, die Mittelschicht zu stärken.
Ihr Plan: höhere Mindestlöhne, starke Gewerkschaften, den mittelständischen Maschinenbau fördern, Hochschulbildung kostenlos machen, Kinderbetreuung staatlich subventionieren.
Der mögliche neue amerikanische Weg, er klingt sehr europäisch.
Es gibt fast 3000 Start-ups und mindestens 7500 Obdachlose in San Francisco.
Frühnebel über San Francisco
Straßenszene in San Francisco
Je teurer die Städte, desto größer die Konzentration an Gutverdienern, was den Preisanstieg noch weitertreibt.
Amerika verliert nicht insgesamt an Wohlstand. Er wird nur anders verteilt
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